Generation Winona Forever!
Irgendwo zwischen Gen Y und Gen Z kurz den Anschluss verpasst. Gut so.
Mit meinem windschiefen Ikea Schirm stand ich um halb elf am Montagabend im Regen an der Bushaltestelle in der HafenCity. Der Abend war amüsant gewesen, wir hatten uns nach dreieinhalb Stunden fröhlich voneinander verabschiedet. Ich federte selbstbewusst zur Haltestelle, statt direkt ein Taxi vom Restaurant aus zu bestellen, weil ich mich so jugendlich, so am Puls der Zeit fühlte. Als sei eine nächtliche Busfahrt durch die Hamburger Innenstadt ein Trip. Als würde ich was wagen. Dabei war es ja nicht mal Nacht. Dennoch war ich die einzige Person auf der Straße. Auf dem Fahrplan las ich, dass der letzte Bus bereits um 21 Uhr 09 gefahren war und bekam kurz Schiss. Normalerweise laufe ich um diese Uhrzeit nicht mehr draußen alleine rum, sondern liege in meinem Bett. Ich winkte mehreren Taxifahrern zu. Der vierte bremste ab, ich rannte zur Beifahrertür hinten und wollte die Tür öffnen, aber da war kein Griff. Ich stand mit tropfnassem Mantel vor der Karre, die leise summte, sah den Fahrer ungerührt drinnen im Trockenen sitzen, aber er bewegte sich nicht, er beugte sich auch nicht nach hinten, um mir, wie das doch sonst üblich ist, die Tür von innen zu öffnen. Ich tastete wie eine Blinde die Karosserie ab, in der einen Hand hielt ich den Knirps, in der anderen meine Tasche, ich hatte keine mehr frei, um meine Lesebrille in dem Beutel zu suchen und das Etui einhändig zu öffnen, im Dunkeln mitten auf der Willy-Brandt-Straße bei Platzregen und Windstärke 11, um einen Scheiß Türgriff zu ermitteln. Ich fühlte mich nicht mehr jugendlich, sondern wie eine Frau, die irgendwo zwischen Gen Y und Gen Z den Anschluss verpasst hatte.
Irgendwann öffnete sich die Tür automatisch und geräuschlos, drinnen saß nicht E.T, sondern ein Mann, der den Namen meiner Straße fünfmal hintereinander in sein Handy sagte. Ich beobachtete den Vorgang von der Rückbank und sah über seine Schulter hinweg eine Adresse in seinem Navi, die nicht meine war: Nein, nein, da wohne ich nicht, rief ich, panisch besorgt, statt in Eimsbüttel in Düsseldorf zu landen mit seinem Space Shuttle. Er hielt mir sein Telefon hin, ich solle es sagen. Meine eigene Anschrift in sein Handy brüllend, erinnerte ich mich an meine erste eigene Wohnung im Oederweg 100 in Frankfurt und daran, dass wir damals alle noch halbwegs alleine im Kopf zuhause waren. Und wie schön das war. Es war 1989, es gab kein Instagram, kein TikTok, keine Gen Z, keine Millennials, keine Likes, keine Follower, wir wussten nicht mal was von der Generation Golf, zu der wir ein Jahrzehnt später erklärt wurden. Was zählte, waren andere Dinge, zum Beispiel, dass Winona Ryder sich mit Johnny Depp, der damals noch keiner war, verlobte und er sich „Winona Forever“ auf seinen Oberarm tätowieren ließ. Wovon man aus der Zeitung erfuhr, es vielleicht auf MTV hörte, aber das war’s dann auch schon. Aus dem Tattoo wurde später, nachdem sie vier Jahre zusammen und doch nicht geheiratet hatten, „Wine Forever“. Johnny war nun mit Kate Moss zusammen. Winona spielte in dem Film Reality Bites, der von der Generation X handelte, die Hauptrolle und knutschte darin mit Ethan Hawke rum. Das waren Abläufe in unserem Leben, die leicht zu verstehen und zu verstoffwechseln waren für das menschliche Gehirn. Meins ist schon länger überfordert. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich die roten Kreise von den aktuellen Instagram Stories, die sich alle 24 Stunden erneuern, sich vor mir weiterdrehen. Diese Reihe von Miniaturköpfen, die angezeigt werden, von Menschen, die angeblich meine Freunde sind, mich aber auf der Straße oft nicht mal grüßen. Manchmal, wenn ich abends im Bett liege, läuft mein Hirn noch auf Hochtouren, als hätte es Nachtschicht und müsse Daten verarbeiten. Manchmal frage ich mich, was und wer das alles mit uns macht, wer wen steuert und wo der Spaß aufgehört hat.
Nach fünf Minuten Vorbereitungszeit fuhr das Taxi schließlich los. Eine weibliche Roboter Stimme rief: Fester Blitzer in fünfhundert Metern. Eine halbe Minute später: Fester Blitzer in vierhundert Metern. Kurz drauf: Fester Blitzer in dreihundert Metern. So ging das weiter bis zur Reeperbahn. Ich wischte mir eine Träne weg und wusste nicht genau, was genau daran mich so traurig machte, aber hatte eine Ahnung: Es hatte viel früher begonnen als an diesem Abend.
Im Jahr 2014 schrieb ich einen Artikel für die Welt am Sonntag über meinen Abschied von Facebook. Darin erzählte ich, dass mir die Plattform nicht guttut, und wie schwer es dennoch fällt, auszusteigen. Der Text klang, als berichte ich über eine Sekte. Hier ein kleiner Auszug: „Wie bei allen Süchten glaubt man ja eine ganze Weile, man habe das im Griff, was einen abhängig macht. Was habe ich eigentlich früher getan, wenn ich einen Artikel schreiben musste und mir partout nichts einfiel? Eine Brezel gegessen, meine Mutter angerufen, eine Buntwäsche angestellt. Heute fällt all das flach. Während ich das hier schreibe, habe ich bereits siebzehnmillionenmal bei Facebbok vorbeigeschaut. Mike Tyson ernährt sich jetzt vegan, schreibt PETA Deutschland, Katrin K. ist jetzt mit Timm H. befreundet und Jasper hat heute Geburtstag. Manchmal liege ich nachts wach und denke mir originelle Statusmeldungen für meinen Abschied aus. Susanne Kaloff sagt leise Servus, oder so. Aber was bringt es, wenn keiner Beifall klatscht, wenn man kein Feedback mehr lesen kann, weil man der Gemeinschaft den Rücken gekehrt hat? Es wäre wie ein Selbstmord ohne Abschiedsbrief.“
Eine App zu löschen ist so ähnlich wie die Maßnahme, keinen Alkohol im Haus zu haben oder zu sagen, man trinke nur am Wochenende oder nur dreißig Minuten am Tag. Oder man shoppe nur online, wenn es dunkel ist. Es ist der Versuch, etwas, was man nicht beherrscht, mit Tricks zu kontrollieren. Ich lösche die Instagram App immer öfter, weil ich woanders sein möchte, als dort, und installiere sie jedes Mal wieder, weil ich denke, ich müsse dort sein, um nicht vergessen zu werden. Alleine dieser Satz ist besorgniserregend. Wenn man seine Online Persona nicht mehr füttert, verliert man Aufmerksamkeit, Sichtbarkeit, Beifall, und in vielen Fällen auch Geld, Jobs, Angebote, Einladungen. Aber umso mehr ich dort abwesend bin, umso mehr bin ich anwesend in meinem richtigen Leben, von dem nur so wenige wirklich was wissen. Ich weiß nicht, ob ich einfach eine hochsensible Person bin, die möglicherweise on top einen an der Waffel hat, aber ich habe etwas beobachtet, was mich stutzig macht: Ist es richtig, dass man täglich auf einem kleinen Gerät in der Größe einer halben Tafel Schokolade eincheckt und checkt, was Milliarden andere machen, denken, sagen, meinen, kaufen, tragen, wollen, haben, essen, trinken, auftragen? Oder kann es sein, dass wir längst an einer Angel hängen, und das, obwohl wir alle immer wieder betonen, dass es harmlos sei ein, haha, Insta Opfer zu sein? Das Daddeln sei doch nur ein netter Zeitvertreib. Ich bin nicht mehr sicher seit dem Tag vor paar Wochen, als mein Gehirn sich von innen anfühlte wie damals im Sommer 2004, als ich von Kreta abreisen musste nach einem Tag Urlaub, weil ich eine massive Panikattacken-Periode hatte und überzeugt davon war, meine Sicherungen da oben würden jeden Moment durchbrennen.
Vor paar Wochen fing es an, dass ich jedes Mal beim Öffnen von Instagram so ein Gefühl bekam, als würde ich mich an ein Gericht erinnern, von dem mir mal übel wurde. Wie zum Beispiel die Käsespätzle, die ich mal bei Feinkost Käfer am Münchner Flughafen aß und danach tagelang überm Klo hing. Wann immer ich heute das Wort Käsespätzle nur lese, könnt’ ich kotzen. So ein Gefühl überkam mich. Aber ich muss doch Werbung machen, denn wenn ich keine Werbung mache, liest niemand meine Sachen und dann kauft keiner meine Texte oder abonniert meinen Newsletter oder bucht meine Kurse und dann werde ich arm und kann nicht mehr all die Sachen kaufen und machen, die auf Instagram beworben werden. Und es sind ja nicht nur die bezahlten Anzeigen, die jedes Kind direkt entlarvt, es sind auch all die Ratschläge und Lebensweisheiten von selbsternannten Heilerinnen, Gurus und Expertinnen, die mich zerfasern. Manchmal frage ich mich, ob meine Gedanken, Sehnsüchte, Ansichten, Wünsche wirklich meine sind oder ob ich beeinflusst wurde. Ist es nicht außerdem verrückt, dass ich auf fast allen Gebieten weniger statt mehr möchte, aber mich dennoch darum schere, ob Follower, Likes und Subscriber mehr werden?
Und ja, man muss da nicht hingehen, nicht hinsehen, man kann entfolgen, stummschalten, man kann seinen Feed besser kuratieren, oder eben die App von Zeit zu Zeit löschen. Was aber bleibt, mindestens ein paar Tage lang, ist diese Unruhe, der ferngesteuerte Griff zum Handy, der Impuls, etwas machen, bei etwas mitmachen, dauernd etwas suchen, teilen oder fotografieren zu müssen. Und es ist völlig wurscht, ob die Plattform Facebook, Instagram, TikTok, Tinder oder YouTube heißt, weil sie am Ende alle das gleiche von uns wollen: unsere ganze Aufmerksamkeit.
Was auch eine Weile nach dem (temporärem, machen wir uns nix vor) Abmelden bleibt, ist das Flimmern vorm dritten Auge. Was jetzt, nach zwei Wochen, langsam kommt, ist spannend: Die Hirnchemie verändert sich. Als ob Wellen abflachen, die stürmische See ruhiger wird. Als gäbe es nur die eine Realität, die ich sehen, anfassen, riechen, hören, begreifen kann. Hier und Jetzt. Keinen virtuellen Raum mehr dahinter oder darunter. Kein Netz, kein doppelter Boden, keine optische Täuschung. Und das fühlt sich gut an, fast ein bisschen so wie damals im Oederweg 100. Ich las, dass es ein Zeichen von Depression sei, wenn man sich in eine Zeit zurückwünscht, die nicht mehr ist. Das mag sein, aber ich sehe noch etwas anderes darin: ich glaube, dass viele von uns niedergeschlagen sind, weil das, was wir heute machen, nicht gesund ist und unsere Körper sich dunkel erinnern, dass es uns früher anders ging. Technologie ist eine feine Sache, das ist gut, das ist Evolution. Aber man muss bei all dem Fortschritt aufpassen, ein Mensch zu bleiben, der einem anderen eine Tür öffnet. Einer, der seinen Weg auch ohne Handy findet. Einer, der mit anderen spricht statt nur zu senden. Einer, der ein Zentrum hat, das unbestechlich bleibt.
Wenn man eine Weile durchhält mit der digitalen Diät, geschieht eine der sonderbarsten Sachen: Man reist in die Neunziger zurück. Ich habe weder YouTube noch Netflix noch sonst was am Laptop geguckt, weil ich letzte Woche beim Aufräumen meiner Mail Accounts auch sämtliche Cookies gelöscht und dadurch alle Zugangsdaten und Passwörter verloren habe, die ich nicht in meiner Birne habe. Ich habe meinen Computer nur zum Tippen von Texten benutzt, nichts privat gegoogelt. Es wurde also sehr still, ich erstmal extrem unruhig, dann tiefbetrübt, als hätte mir jemand mein Lebenselixir genommen. Was für einen Sinn hat denn nun alles überhaupt noch, fragte ich mich, während ich an die Decke statt stundenlang auf einen Bildschirm starrte. Also ganz klassische Entzugserscheinungen. Ich habe mein Handy nur zum Schreiben von Nachrichten und zum Telefonieren benutzt, das Haruki Murakami Buch fast zu Ende gelesen, viel aus dem Fenster geguckt, meine eigenen Gedanken zu Ende gedacht, das Licht genossen, seelenruhig geschlafen und nur zwei Fotos gemacht: Einen Kaffeebecher und eine Saxifraga auf dem Fensterbrett. Mehr habe ich heute nicht zu teilen. Lange nicht mehr so erholt gefühlt.


Danke Dir, liebe Suse, welch ein wahrer Text wieder. Ja, wir, die Gen X, die die nachfolgenden Gens nicht mehr richtig kapiert. Die so altertümlich und aus der Zeit gefallen wirken, wenn sie den Jungen sagen, lies doch mal ein Buch. Aber was all diese Netflix, Insta- und Co Junkies verpassen, ist schlichtweg ihr Leben. Das echte Leben, das Wahrnehmen, Fühlen, Riechen. Wir werden das nicht aufhalten können, aber wir können gut auf uns aufpassen und versuchen, Mensch zu bleiben. Ich bin zB jeden Samstag im Pflegeheim bei meinem Vater, dort finde ich sowas: Menschlichkeit, Nähe, Lachen, Zufriedenheit mit dem, was ist, trotz all dem Leid, der Gebrechlichkeit, den Vorzeichen des Todes, etc. Aber dort erlebe ich das pure Leben! Habt alle einen schönen Sonntag🥰
Wow! Danke für diesen Text, der mich ganz besonders berührt. Vermutlich, weil ich 89 auch in Frankfurt gelebt habe. Im Röderbergweg 126.
Vielleicht, weil ich immer noch das Gefühl habe, damals viel verpasst zu haben, weil meine Kleinstadtseele mit der großen Stadt nicht so gut klar kam, weil die Erinnerung an Winona, Ethan und MTV so viele schöne Lichter in meinem Kopf angemacht haben, weil … ach ich weiß auch nicht, warum deine Geschichte mich heute so berührt und ja auch ein bisschen traurig, oder eher wehmütig macht …
Wie auch immer. Wollte einfach kurz DANKE sagen, dass du mich so fühlbar teilhaben ließest an deiner emotionale Zeitreise im seelen- und planlosen Hamburger Space Shuttle …
Danke 🙏🏻🩵