




“Bei Vollmond soll man es nicht zu doll treiben. Sich nicht überanstrengen, keine Sperenzchen, eher sanft praktizieren, jedenfalls, was das Yoga angeht. „Wenn die Position des Mondes Einfluss auf Ebbe und Flut hat, was macht er dann erst mit uns, die wir aus 70 Prozent Wasser bestehen?“ sagte die Yogalehrerin, die sogar eine Playlist mit Songs zusammengestellt hatte, die in irgendeiner Weise vom Mond handelten. Während einer meiner Lieblingskünstlerinnen, 070 Shake, Under The Moon sang, lag ich unterm Vollmond in der letzten Reihe neben den Duftkerzen und stellte mir bohrende Fragen, die alle mit W anfingen: Warum bist du so gereizt? Wer hat dir was getan? Wieso fällt dir ein inneres Lächeln so schwer? Ich hatte keine Antworten, aber Bärenhunger, und bereits 60 Minuten im Geist durchgespielt, was ich essen würde, sobald ich hier raus wäre. Die Lehrerin erklärte mit einer Stimme, die so beruhigend klang wie ein Wasserspiel, dass es zwar nah am Klischee sei, aber Rückbeugen das Herz öffnen würden. Ich mochte, wie sie redete, hing wie ein nasser Sack in der Schulterbrücke und dachte an Falafel.
Nach 90 Minuten betrat ich die bumsvolle Bude in der Schanze, setzte mich an einen Tisch, an dem vier junge Frauen saßen. Zwei Zweierteams, ich alleine in meiner Jogginghose über der Leggings, nicht mal eine Matte hatte ich unterm Arm, die erklärt hätte, warum ich an einem Freitagabend alleine unterwegs war. Ich guckte auf den Teller neben mir und unterbrach das Gespräch: Entschuldigung, was ist das? Sie: Blumenkohl. Ich kam mir vor wie eine Dame, die im Restaurant den Hut aufbehält, rechnete im Kopf aus, wie viele Jahre ich schon hierherkomme und nach dem Yoga Falafel esse, fünfzehn, zwanzig Jahre vielleicht. Und wie alt seid ihr? Das fragte ich sie nicht, aber bestellte auch den Blumenkohl. Mein Herz fühlte sich verkocht an. Gegenüber erzählten sich zwei Studentinnen, die sich offenbar erst kennengelernt hatten, woher sie kommen, wie lange sie schon mit ihren Freunden zusammen sind und dass, „geil, Aubergine“, immer geht. Die eine meinte, sie ernähre sich, bis auf ein Ei im halben Jahr auf einem Avocado-Brot, komplett vegan. Die andere erwiderte: Same. Als sei same ein ganzer Satz. Aber keine der beiden konnte einen beenden, weil die andere, während sie mit ihren Gabeln auf gemeinsame Teller pieksten, immerzu Wörter dazwischenrief: total, voll, save. Es kamen immer mehr kleine Tellerchen mit leckeren Sachen drauf, die sie mit den halbgaren Silben und Wortbrocken verschlangen. Ich konnte nicht anders als ihren Monologen lauschen, uns trennte ja nur ein Brotkorb, und sie brüllten mehr als dass sie sprachen, probierten gegenseitig von ihren Gäbelchen und tranken gegenseitig aus ihren Becherchen. Ich liiiebe Zimt! Same. Same! Die beiden anderen Frauen neben mir wurden auch immer leiser, weil es kaum möglich war, dem eigenen Gespräch oder eigenen Gedanken zu folgen, so ein Aufruhr herrschte bei den Studentinnen. Vielleicht ist Essen der Sex der Jugend, überlegte ich. Die Frau mit dem Blumenkohl neben mir fragte ihre Freundin, ob sie schon mal in einem Sterne-Restaurant gewesen sei. Nein, aber sie habe mit ihren Eltern schon mal in einem gehobenen Restaurant gegessen. Vom anderen Ende des Tisches tönte mit einer Kartoffelspalte mit Hummus im Mund eine Stimme: Ja, voll, Dill ist so nen Gamechanger! Ich mach überall Dill dran! Soo ein Gamechanger. Die Mädchen hätten meine Töchter sein können, sie hatten die Nacht und das ganze Leben vor sich, sie hätten alles sein und alles machen können, und sie unterhielten sich an einem Freitagabend über Dill. Irgendwie beruhigte mich das.”
Das dort oben sind 3626 Zeichen, zu lang für eine klassische Kolumne, das Ende ist unfertig, der Einstieg keine Glanzleistung. Was aber viel gravierender ist: Sie hat keinen Geist. Wer sie geschrieben hat? Ich. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn man mit dem Kopf tippt und etwas konstruiert, um zu vermeiden, was eigentlich raus will. Die Geschichte oben wäre gut geworden, wenn ich sie direkt rausgelassen hätte nach dem Abend unter dem Vollmond. Der liegt jedoch bereits eine Woche zurück, der Drops war gelutscht, die Erinnerung abgekühlt, der Spirit verflogen. Meine Gefühle unterm gedehnten Brustkorb, die ich an jenem Abend hatte, waren intensiv, ich hatte tausend Worte in mir, um sie zu beschreiben. Hätte ich sie an diesem Abend rausgelassen, hätte ich sie nicht ziehen lassen. Habe ich aber. Danach verflüchtigten sie sich wie Wasserdampf. Ich holte sie nur zurück, weil ich heute früh im Schreibkurs ein Beispiel nennen wollte, wie profan der Plot sein kann, dass man aus jeder gut beobachteten Szene eine starke Kolumne machen kann. Das ist wahr, mit einer Einschränkung: wenn das Momentum vorbei ist, wird daraus Aufgewärmtes. Man spürt sehr genau, wenn die innewohnende Kraft zur Bewegung verpufft, der Zug aus der Halle ist.
Als der erste Teil des Kurses vorbei war, wusste ich, dass es das letzte Mal war. Dies der letzte The Carrie Crash Course gewesen sein wird. Ich kann nicht sagen, woher das kam, aber ich stand in der Küche, sah meine Primeln an, die ich am Morgen gekauft hatte, und ein Raum ging auf, der nicht auf dem Grundriss meiner Wohnung eingezeichnet ist: Gleißend hell und weit, niemand drin, außer ich, die schreiben will. Alleine.