Nee, ich bleib’ auf keinen Fall über Nacht, ich fahre am Abend wieder heim, sagte ich zu Pedi. Sind doch nur zwei Stunden von Hamburg. Ich musste für einen Job nach Berlin, morgens rein, abends raus. Es gab keinen Grund, länger zu bleiben. Vielleicht braucht es keinen, vielleicht muss nicht alles Sinn, vielleicht darf es einfach Spaß machen? Das ist doch viel zu teuer, erklärte ich, warum soll ich eine Nacht in einem fremden Bett schlafen, wenn ich eins daheim habe, in dem ich wie jeden Abend meinen Abendtee schlürfen kann? Ich mache doch ein No-Buy Year, dazu passt kein Hedonismus, erklärte ich mir selbst. Wann hatte es eigentlich angefangen, dass ich bereits das Buchen eines Einzelzimmers als Hedonismus empfand? Im Hedonismus spielt der Begriff Lust die Hauptrolle. Es geht darum, Genuss zu erhöhen und Schmerzen zu vermeiden. Die zentrale Frage im philosophischen Sinn lautet dabei: Was steigert Lust und was verringert Schmerz? Davon wird abhängig gemacht, was wir tun sollen. Mein Credo „Geh’ dahin, wo es wehtut“ gilt dort nicht. Mich aber zieht es häufig genau dort hin, nicht aus Selbstzerfleischung oder mangelnder Selbstliebe, sondern zur Selbsterfahrung. Wie nennt man das, wenn man nach einem Kompass lebt, der einem aufzeigt, was Lust verringert und Schmerz vergrößert? No-Buy Year? Askese? Beklopptheit?
Ich checkte die Speisekarte des Restaurants, es gab nur ein vegetarisches Gericht, Risotto mit Trüffel. Dafür Moules frites, las ich, und erinnerte mich an unsere Italienrundreise 2003, als ich nichts lieber getan hätte, als Spaghetti alle vongole zu bestellen, aber mich nicht traute, weil ich in einer Yoga-Sekte war, die sagte: Wir essen nichts, was Augen hat. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wäre es der: Noch einmal zurück an diesen Ort reisen und alles anders machen. Eine andere Frau sein, eine, die die Eier hat, so frei zu sein, zu tun und zu lassen, was sie will, weil wir am Ende alle sterben und wir unser irdisches Dasein deshalb genauso genießen könnten, nicht wahr? Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Aber ich zweifle immer mehr an dem Konzept der Aufsparung fürs Jenseits, der Erleuchtung und dem Versuch, das Leben mit Hilfe von Tugend zu verlängern.
Ich reservierte also ein Zimmer im Château Royal, plus einen Tisch in deren Restaurant für zwei Personen und machte vier Verabredungen für 24 Stunden Berlin aus. Wenn es eine Sache gibt, auf die ich ein bisschen achten muss, ist es das: Nicht zu viel alleine zu sein. Weil mir das Alleinsein mehr liegt und leichter fällt als das Zusammensein, neige ich dazu, mich zurückzuziehen. Das ist in Ordnung, solange es nicht zu einer Strategie wird, um sich in scheinbarer Sicherheit zu wiegen. Sicher vor was eigentlich? Vor der Aufregung der Tage, der Nervosität der Nacht, dem Rausch des Lebendigseins. Es heißt doch immer, man solle seine Komfortzone verlassen, um zu wachsen. Was aber, wenn es in Wahrheit gar nicht so komfortabel ist, wo man sich versteckt, sondern primär der Routine dient?