Ich sitze mit blauen Lippen in einem weißen Leinensack auf dem Balkon, hab’ paar Blaubeeren im Stehen in der Küche in den Mund gestopft, so hungrig kam ich heim nach der zweistündigen Yogaklasse. An meinen Fesseln sind noch die Abdrücke der zu strammen Socken unter der zu strammen Leggings zu erkennen. Die Samstagsonne hinter dem gelb gepunkteten Schirm, das giftige Grün der Blätter, beinahe so dicht schon, dass mich niemand mehr vom Ufer aus entdecken kann. Ich stelle meine nackten Füße auf den zweiten Stuhl. Der Wind weht den Saum des Kleids hoch. Meine Beine sind schneeweiß und makelvoll. Es ist der schönste Tag seit ich denken kann. Ich warte seit Jahren auf ihn. Immer wieder. Jeden Moment. Das ist er. Jetzt. Ich bin sicher. Zwei Kaschmirtücher um meinen Körper gewickelt, eins um die Hüfte, eins um den Hals. Die Sonnenbrille fliegt vom Tisch. Heute früh, als ich schon in der Yin Yang Leggings zum Abflug bereit im Flur stand, um es pünktlich zu Karo auf die Matte zu packen, kam das Vintage Vyshyvanka Kleid mit der Post an. Dopamin schoss wie ne Designerdroge direkt in mein Blut, fühlte sich gut an, so gut, dass ich gerne Yoga geschwänzt hätte. Wollte es noch auf der Stelle anprobieren, sehen, ob das, was ich gekauft hatte, richtig war. Oder ob ich einen Fehler gemacht hatte. Als hinge Leben und Tod davon ab, als sei es entscheidend für meine Zukunft, was ich entschieden hatte. Ob ein Etuikleid möglicherweise besser gewesen wäre als der Kittel. Ob es zu öko ist, zu unsexy, zu keusch ist. Es ist doch nur ein Stück Stoff.
Kann ein Stück Stoff wirklich etwas über mein Körpergefühl aussagen? Hat ein Stück Stoff die Herrschaft über mein Sex-Appeal? Was soll das eigentlich heißen? „Sex-Appeal beschreibt eine sexuell-erotische Form der Attraktivität von bestimmten Menschen auf das andere Geschlecht“ lese ich auf Wikipedia. Klingt wie aus dem Fünfziger Jahre Ratgeber „Schön sein, schön bleiben“, den ich als Kind fasziniert bei meiner Oma im Sessel sitzend durchblätterte. Schon damals erschien mir die Vorstellung nicht erstrebenswert, sich einem Mann nur von seiner besten Seite zu zeigen. Niemals solle sich die geschätzte Leserin in Lockenwicklern und im Morgenrock vor ihm blicken lassen, ihr Gatte würde sonst jegliche Achtung vor ihr verlieren. Um diese Regel visuell zu untermalen, gab es in dem Kapitel eine Illustration einer mürrisch blickenden Frau mit wirrem Haar unter Lockenwicklern in Hausschlappen und mit einer Kippe im Mundwinkel. Diese Zeichnung hat sich in mein junges Hirn gebrannt und statt fürs Streben nach Perfektion für frühen Protest gesorgt.





Als ich es schließlich anprobiere, das wunderschöne hundertjährige Kleid, sehe ich all das, was an mir nicht wunderschön ist. Man muss sich nicht immer unwiderstehlich finden, man muss sich nicht zwingend immerzu lieben, die einzige Pflicht, die man sich selbst gegenüber hat, ist, sich dennoch gut um sich zu kümmern. Dann erst recht.