Beim Einfahren in den Frankfurter Hauptbahnhof mich an all die warmen Marzipan Croissants erinnert, die ich hier morgens auf dem Weg zur Sprachschule gekauft habe. Dort sollte ich lernen, wie man Geschäftsbriefe auf Englisch und Französisch verfasst. Ich konnte nicht gut tippen, aber bis morgens um 6 im Dorian Gray rumflippen. Immer auf der Suche nach einem Sprungbrett, nie durchdringend, wo ich eigentlich landen wollte.
5.Mai 1986
Eben auf dem Weg zur U-Bahn sah ich ihn. Er war nett! Heute Abend gehe ich mal ins Vogue und hole mir seine Telefonnummer ab, obwohl ich die natürlich schon besitze und auswendig kann.
Auf der Freßgass ins Schaufenster der Arizona Gallerie geguckt, die dort immer noch den gleichen Türkisschmuck verkauft wie 1986. Drinnen roch es wie an dem Tag im Mai, als ich verschossen und sicher war, über Nacht endlich in das Leben katapultiert worden zu sein, das ich mir in unserem Kinderzimmer mit dem Billy Regal als Raumteiler ersponnen hatte. Endlich auserwählt, angeschossen vor Glück in meiner Bomberjacke. Eine Woche lang hielt der freie Fall vom Zehner an. Als er mich das erste Mal mitnahm, in seine Wohnung, klein und schäbig über einem Haushaltswarengeschäft in der Innenstadt, lag neben seinem Bett ein Schulheft. Apple – Apfel stand da drin, und The Tree - der Baum. Im Bad hing ein weißer Frotteebademantel mit einer Micky Maus auf dem Rücken. Er sagte, er würde jetzt den Führerschein machen, damit er immer zu mir fahren kann. Nach dieser Nacht ging ich am anderen Morgen in die Fremdsprachenschule und er sagte „Lern schön brav.“ Ich hatte keinen Hunger mehr, ich schlief nicht mehr, ich hörte nichts mehr, ich sah nichts mehr. Ich dachte nur an ihn. Morgens, mittags, abends. Wenn sein Name fällt, zucke ich heute noch zusammen. An unserem ersten Date gingen wir in ein Steakhaus in der Nähe, wo jetzt Jimmy Choo ist. Er sagte zum Kellner, er solle sich mal ein anständiges Deo kaufen, und ich lachte verlegen über seine Unverfrorenheit. Danach Spätvorstellung, 9 1/2 Wochen und erste Küsse. In den Jahren, die danach kamen, sah ich den Film neunhundert Mal. Wie konnten aus 9 1/2 Wochen neun Jahre werden? Daran erinnerte ich mich nun am Opernplatz, Ecke Hochstraße, wo ich mal in einer Champagnerbar gearbeitet hatte, in der es Kartoffelpuffer mit Kaviar und einen Kellner gab, der Freigang hatte bis Mitternacht. Einmal war Weinfest auf der Fressgass und ein männlicher Gast fragte den Chef der Champagnerbar, ob er mich für eine Stunde dahin entführen dürfe, um sich mit einer hübschen jungen Frau zu zeigen. Mein Chef sagte: “Für 100 Mark kannst du sie mitnehmen.” Ich stand daneben und spülte Gläser. Nein, das war nicht im Mittelalter, das war in den Neunzigern.