SUSE IN YOUR POCKET

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Dieses Gesicht heute ist das jüngste, das du jemals haben wirst!

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Suse Kaloff
Feb 18, 2024
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Dieses Gesicht heute ist das jüngste, das du jemals haben wirst!
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To all the phenomenal women out there: Jetzt kommt nie wieder.

Freiwillig hätte ich mich nie an diesen Ort begeben, aber nun stand ich mitten in der Woche zur Mittagspausenzeit in der knüppelvollen Innenstadt in einer japanischen Fast-Fashion Kette mit Selbstbedienungskassen und sah mich im Vorbeigehen zufällig in einem Spiegel. Der erste Gedanke: Zuhause mochte ich die Frau noch. Der zweite: Sie gefällt mir nicht in diesem Umfeld. Mir fiel der Chefredakteur ein, der am ersten Tag meines Allegra Praktikums im Jahr 2000 in der Konferenz meinte: “Ich will keine Geschichte mehr darüber lesen, wie sich eine Frau im Licht der Umkleidekabine selbst scheiße findet.” Ich auch nicht.

Nun war ich nicht mal in einer Umkleidekabine, ich stand mit Schal, Mütze und im eigenen Saft in der Thermounterwäschenabteilung und dachte an Erika Mann, die in dem Buch "Liebe in Zeiten des Hasses”, das ich seit zwei Jahren noch immer lese, zitiert wird mit den Worten: “Die Skepsis sich selbst gegenüber hat so etwas Schlappes.” Was für ein großartiger Satz! Ich verlies blitzschnell den Schuppen ohne Thermounterwäsche und am nächsten Morgen die Stadt. Kaufte mir am Dammtor Bahnhof Proviant für sieben Tage, dabei sollte die Fahrt nur sieben Stunden dauern. Ich las keine einzige Zeile in meinem Buch, das zentnerschwer in meinem weitgereisten Rucksack zwischen Thermoskanne und Schlafanzug lag. Ich sah sieben Stunden aus dem Fenster und mir das Leben der Anderen im Vorbeifahren an. In Münster stieg ich um. Auf dem Bahnsteig standen drei Frauen mit acht Kindern, die ukrainisch sprachen und in ihren Handys nach dem Weg suchten. Neben mir ein alter Mann mit Augen, als hätte man Cyanblau aus dem Pelikan Farbkasten mit zuviel Wasser verdünnt. Wir saßen eine halbe Stunde schweigend nebeneinander auf der Bank und ich sah dem Sekundenzeiger auf Gleis 4 zu. Wie die Zeit ohne Zutun verging. Als mein Zug kam, lächelte ich dem alten Mann zu, er nickte leicht mit dem Kopf, als würden wir Auf Wiedersehen sagen. Für einen Augenblick blieb der Sekundenzeiger stehen.

Das letzte Mal war ich in Bad Nauheim mit Siebzehn. Nun kehrte ich zurück in die Kurstadt, war über Nacht 54 Jahre alt geworden und erkannte weder den Ort noch mich selbst wieder. Aber um mich ging es auch nicht. Und das war gut so. Vielleicht ist dieses Sichselbstvergessen für einen Moment, eine Weile, eine Reise lang, eine Nacht, das größte Geschenk, das man einem anderen Menschen und sich selbst machen kann. Sich beiseite legen, die Stunden, die am Fenster vorbeirauschen, ziehen lassen, vernachlässigen, wie man aussieht, ob man schwer zu tragen hat, ausreichend hydriert oder gesund gegessen hat, wer neben einem sitzt, wie es riecht, ob es lärmt, nervt, unbequem ist oder man mit den Arschbacken auf die siffige Klobrille plumpst, weil der Schneckentempo-Zug plötzlich Vollgas gibt, man mit heruntergelassener Hose aus der Kurve fliegt und unmittelbar ein Herpes an der Unterlippe spürt. Wem all das nicht gelingt, empfehle ich dieses Buch oben. Danach ist man genesen vom Selbstmitleid für alle Zeit. Was man darin erfährt über Liebe, Kunst, die Kraft der Menschen und das Grauen 1933, ist zum Heulen und zum Heilen.

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